Im Interview erklärt Thomas Pablo Hagemeyer, Beirat bei GOLDKIND, wie man sich in der Therapie Menschen mit narzisstischer Ausprägung nähern und ihre Empathiebereitschaft wecken kann, ohne zu stigmatisieren.
Dr. med. Thomas Pablo Hagemeyer, 1970 in Bonn geboren, aufgewachsen in Südamerika und Spanien, ist Arzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und unterhält eine eigene psychotherapeutische Praxis in Weilheim. Sein Werdegang war innerhalb der Ärztetradition seiner Familie beinahe schon vorgezeichnet. Aber noch während seines Medizinstudiums mit Schwerpunkt Neurowissenschaft und Emotionsforschung bemerkte Hagemeyer, dass die rein klinische Seite seines Berufes ihm nicht vollständig entsprach. „Ich wollte das Kreative stärker in mein Leben integrieren und hatte das Storytelling für mich entdeckt,“ sagt der Psychiater. Deshalb gründete er mit Kollegen eine Filmberatung für medizinische Inhalte, die u.a. als Consultant für namhafte, erfolgreiche Fernsehproduktionen fungiert. Zudem wirkt Pablo Hagemeyer auch als Drehbuchautor, Podcaster und Dozent für Persönlichkeitspsychologie. Er ist Dozent an der Münchner Filmwerkstatt, Gastdozent an der IGST – Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie, Heidelberg, und Dozent an der AIHE – Academic Institute Higher Education. Das Storytelling ist zudem ein wichtiger Bestandteil seiner therapeutischen Arbeit geworden, in der Hagemeyer narrative Ansätze und Transformationsprozesse integriert, um den Patienten verschiedene Wege zu ebnen, ihre emotionalen Konflikte begreifbar zu machen und gewinnbringend aufzulösen.
“Gestatten, ich bin ein Arschloch”
Daneben hat der Psychiater als Experte zahlreiche allgemeine Sachbücher über das Thema mit einer kritischen Inneneinsicht eines „netten“ Narzissten veröffentlicht (darunter: „Die perfiden Spiele der Narzissten“, „Gestatten, ich bin ein Arschloch“ bei Edenbooks) und landete damit auf der „Spiegel“-Bestseller-Liste.
Diese profunde Kenntnis und seinen Therapieschwerpunkt Narzissmus bringt Dr. Pablo Hagemeyer nun auch als Beirat bei der der GOLDKIND Stiftung für Kinder aus dysfunktionalen Familien ein. Sein Anliegen ist es, detaillierte Aufklärungsarbeit zu leisten. Das soll auf verschiedenen Ebenen wirken, sowohl bei den betroffenen Eltern, bei ihren Kindern, aber auch innerhalb der Gesellschaft. Ein Schwerpunkt seiner therapeutischen Tätigkeit ist außerdem ein Coaching für Menschen mit einer starken narzisstischen Charakterseite, um deren Empathiebereitschaft und Emotionsregulation zu schulen und ihnen ein konfliktfreieres Zusammenleben innerhalb ihres familiären Umfelds zu ermöglichen. Zudem ist Dr. Pablo Hagemeyer der systemische Ansatz wichtig. Alle Betroffenen werden eingebunden, jene, die es mittragen, die es ertragen und die, die auftragen.
“Narzissmus wird viel zu oft pathologisierend verwendet”
Der Begriff „Narzissmus“ werde heute zu häufig pathologisierend in Auseinandersetzungen verwendet, sagt Dr. Pablo Hagemeyer, besonders bei Sorgerechtsstreitigkeiten. Innerhalb einer Konfrontation erreiche man aber meist nur narzisstische Abwehr und der ungute Kreislauf verschiedener manipulativer Verhaltensweisen gehe unverändert weiter. „Wir müssen, umgekehrt, liebevoll auf die Narzissten zugehen, ihnen helfen, ihre oft verletzenden Reaktionen zu verstehen, damit sie diese dann korrigieren können,“ sagt der Narzissmus-Experte. „Ich versuche, auf allen Ebenen, auch mit Empathie mit der stark subjektiven Perspektive narzisstischer Personen, in Kontakt zu kommen. So können sie sich geschützt mit ihren Ängsten auseinandersetzen und gegenüber den Betroffenen Mitverantwortung übernehmen. Umgekehrt gilt der klare Blick auch für das Umfeld. Manchmal entpuppt sich da ein komplementär narzisstisches Verhalten.“
„Narzissmus an sich ist ein lebensnotwendiger Teil einer jeden Persönlichkeit – nur ist er ganz unterschiedlich stark ausgeprägt“, sagt der Experte. Neben der gesunden narzisstischen Seite, die den Selbstwert wachsen lässt, unterscheide die Wissenschaft verschieden ausgebildete Formen von Narzissmus: Grandioser Narzissmus, vulnerabler Narzissmus, verdeckt oder offen, als Persönlichkeitsstörung mit verbundenem Leiden oder lediglich als einen mehr oder weniger „nervigen“ narzisstischen Persönlichkeitsstil. Akzentuierte Narzissten haben unterschiedlich stark ausgeprägte narzisstische Strategien entwickelt, die im familiären Miteinander durchaus störend wirken können, aber noch keine klinische Diagnose rechtfertigen. Jenseits dieser alltäglich weit verbreiteten Verhaltensweise kann der Narzissmus aber auch pathologische Züge annehmen. Diese Narzissten weisen – so der Fachterminus – eine narzisstische Persönlichkeitsstörung auf. Sie haben chronische Schwierigkeiten mit dem Selbstwertgefühl und kollidieren dann auch stark mit der Umwelt. Ihre Grenzüberschreitungen, Manipulationen, Abwertungen und Traumabindung an andere, etwa durch die Wahrnehmungsverwirrung der anderen (Gaslighting), dienen dem egoistischen Ziel, ihr Gegenüber zu schwächen und im Extremfall zu zerstören. Diese schwerwiegende, auch psychopathische Form des Narzissmus, ist allerdings sehr viel seltener anzutreffen. Narzissmus kann in jeder Ausprägung stark verändernd für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern sein, etwa durch die narzisstische Ausbeutung durch die Eltern der Kinder, die stellvertretend elterliche Ziele erreichen müssen.
“Die Signale der Kinder richtig deuten”
Betrachtet man die Familie an sich, wirken das narzisstische System und die Kinder darin nach außen oftmals scheinbar normal. „Narzisstische Mechanismen aber laufen meist im Intimen ab“, erklärt Pablo Hagemeyer. „Oftmals haben nur Anwälte und Psychotherapeuten den genauen Einblick, wenn es zu narzisstisch motiviertem Missbrauch und Grenzverletzungen kommt.“ Umso mehr sei man auf objektive Einschätzung Dritter angewiesen, deren Wahrnehmung geschult ist und die auf spezifische Marker im Verhalten der traumatisierten Kinder achten können. „Das können dissoziative Phänomene sein, Depersonalisation, Erstarren, Verwirrung, Sprachverarmung. Extremere Verhaltensweisen können selbstverletzende Tendenzen sein oder völlige Desorganisation des Selbst, wie wir es von komplexen Traumafolgestörungen her kennen.“ Aus diesem Grund seien Fortbildung und Schulung so nötig, um die Signale der betroffenen Kinder richtig deuten können.
Wie die Hilfe für die Kinder dann aussehen kann? Erste Hilfsmaßnahmen für die Kinder seien offene Sprechstunden für Kinder, Beratung der Eltern, gemeinsame Termine der Eltern mit den Kindern. „Man kann den Kindern wirksam helfen, wenn die Eltern mitmachen“, so Hagemeyer. Immer gelte es, die Narzissten nicht zu stigmatisieren. „Eine systemische Sprechstunde, die alle Familienmitglieder erreicht, kann zum Beispiel vermitteln: Keiner ist schuld. Alle sind beteiligt in der Selbstverantwortung am Gelingen. Dann fühlt sich niemand vorgeführt oder angegriffen. Therapeutische Unparteilichkeit muss gewährleistet sein, um die Interaktion offen zu beobachten. Parteilichkeit und Schutz sind dann notwendig, wenn narzisstisch motivierte Grenzverletzungen stattfinden. Jede Form des Missbrauchs durch emotionale, psychische, körperliche oder gar sexualisierte Gewalt ist eine Straftat. Es ist als Behandler herausfordernd, hier ein Bewusstsein zu schaffen und in der Arbeit mit den Eltern eine wirksame Balance zu finden.“
“Eine gute emotionale Kommunikation”
Und noch eine dringende Empfehlung hat der Goldkind-Beirat: „Die Kinder sollten Bescheid wissen, wenn ihre Eltern stark narzisstische Seiten zeigen. So wird beispielsweise – je nach Studie – die Eigenschaft bis zu einem Drittel an die Kinder vererbt. Aber die Ausprägung hängt stark vom Umfeld ab, in dem entweder die grandiose oder die verletzliche Seite gefördert wird. Narzissmus kann bei jedem mehr oder weniger stark ausgeprägt vorkommen. Die Frage allerdings ist dann: Was machen wir aus dem Narzissmus, wenn wir ihn mal erkannt haben? Wo hilft und wo schadet er? Die gesellschaftliche Relevanz ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Wollen wir weiter in einer Gesellschaft leben, die nur dem starken Individualisierungsdrang und dem Ideal radikaler Unabhängigkeit folgt? Oder wären wir bereit, auf eine gute emotionale Kommunikation und eine bereichernde Abhängigkeit voneinander zu bauen?
Im Gespräch mit dem GOLDKIND-Podcast:
Die Bücher von Dr. Pablo Hagemeyer:
“Gestatten, ich bin ein Arschloch”
“Die perfiden Spiele der Narzissten”
Mehr Infos zum Thema Narzissmus.