Die Kinder im Blick

Interview mit Livia Koller zum Thema Hilfe für die Kinder psychisch kranker Eltern

Psychotherapeutin Livia Koller ist verantwortlich für die Kindersprechstunde am Bezirkskrankenhaus Augsburg, in der Kinder begleitet werden, deren Eltern an einer psychischen Erkrankung leiden. Sie erklärt, mit welchen Folgen die Kinder kämpfen und warum es wichtig ist, die Kinder frühzeitig über die elterliche Erkrankung aufzuklären und ihnen ebenso früh Hilfestellung anzubieten.

Welchen Ansatz verfolgen Sie mit der Kindersprechstunde?

Die Kindersprechstunde ist ein Angebot in der Erwachsenenpsychiatrie, das von allen Patient:innen und deren Kindern in Anspruch genommen werden kann. Und nicht das Kind, sondern nur ein Elternteil benötigt die Diagnose einer psychischen Erkrankung. Viele der Kinder, die in die Kindersprechstunde kommen, sind auch nicht psychisch krank oder auffällig, aber meistens stark belastet. Kinder mit psychisch kranken Eltern gehören zu einer Hochrisikogruppe. Sie haben ein sehr hohes Risiko, selbst eine psychische Erkrankung zu erleiden. Mit dem Angebot der Kindersprechstunde können wir bereits eingreifen, bevor die Kinder auffällig werden, indem wir ihre Resilienz stärken. Die Kindersprechstunde ist somit eine präventive Maßnahme, die niederschwellig und zeitnah, also klinikintern und ohne lange Wartezeiten – in der Regel muss man bei Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeutinnen lange auf einen Termin warten – greifen kann.

 

Die Kinder zu berücksichtigen innerhalb der Therapie der Erwachsenen ist bislang noch nicht allgemein üblich.

Nein, in der Erwachsenenpsychiatrie werden die Partner:innen in Angehörigengesprächen durchaus miteinbezogen, aber die Kinder werden häufig vergessen. Sie gelten als die „vergessenen kleinen Angehörigen“ und spielen im Behandlungskonzept üblicherweise keine Rolle. Aber es ist ja nicht nur so, dass die Kinder unter den Auswirkungen der Erkrankung ihrer Eltern leiden, die Eltern sind ja ebenso belastet durch die Kinderthemen. Eine psychische Erkrankung eines Familienmitglieds betrifft aber immer das ganze System Familie und die Belastungen der Elternrolle sollten in der Behandlung auch mitbetrachtet werden.

Kinder stecken häufig in Loyalitätskonflikten

Wie reagieren die Kinder auf die Situation ihrer Eltern?

Ganz typisch sind die „auffällig unauffälligen“ Kinder, die versuchen, den Familienalltag und damit auch die Fassade aufrechtzuerhalten und das Leben daheim zu stabilisieren. Wenn sie keine Erklärung für die Erkrankung des Elternteils haben, was häufig der Fall ist, entwickeln sie Schuld- und Verantwortungsgefühle und strengen sich sehr an, alles zu tun, damit es der Mama oder dem Papa besser geht. Aber sie müssen meist die Erfahrung machen, dass es trotzdem nicht besser wird. Das wiederum verstärkt die Schuldgefühle und führt nicht selten zu Überforderung und Resignation. Hinzu kommt, dass sich oft auch die Lebenssituation der Kinder dramatisch verschlechtert, sie haben weniger Freizeit und weniger soziale Kontakte. Häufig kommt es  aufgrund von psychischen Erkrankungen dazu, dass die Eltern die Arbeit verlieren und/oder sich trennen, die Familie in kleinere Wohnungen umziehen muss und die Kinder zusätzliche Einschränkungen erfahren. Weil ihnen ihr Zuhause peinlich ist, sie sich für ihre Eltern schämen, ziehen sie sich häufig zurück, bringen keine Freunde mit nach Hause und verlieren zunehmend soziale Anbindungen. Aufgrund der Tabuisierung und Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen erfahren Kinder Kommunikationsverbote, die manchmal von den Eltern explizit formuliert werden (z. B. „Du sagst niemanden, dass der Papa so viel trinkt.“), sodass sie mit niemandem über die Situation zu Hause sprechen und sich niemandem anvertrauen, denn das wäre dann ein Verrat an der Familie. Diese Loyalitätskonflikte der Kinder verhindern häufig, dass Kinder Hilfe und Unterstützung erfahren.

 

Und wie fühlen sich die betroffenen Kinder?

Von den Eltern bekommen sie oftmals zu wenig Aufmerksamkeit und sind emotional unterversorgt. Sie werden mit ihren Gefühlen alleingelassen und diese Emotionen sind meist ziemlich ambivalent: Die Kinder sind verwirrt, verunsichert, frustriert, wütend, gleichzeitig fühlen sie sich verantwortlich und schuldig, haben ein schlechtes Gewissen, empfinden Mitleid und Scham. Jugendlichen fällt es aufgrund des besonderen Verantwortungsgefühls schwerer, sich vom Elternhaus zu lösen. Viele Kinder  haben Angst um den erkrankten Elternteil, machen sich Sorgen, viele haben aber auch Angst vor dem Elternteil, zum Beispiel bei aggressivem Verhalten aufgrund von Psychosen, Wahnideen oder Rauschzuständen.

Kindgerechte Aufklärung über psychische Erkrankungen

Auf welchen Wegen unterstützen Sie die Kinder?

Ich versuche, die Resilienz der Kinder, also deren Widerstandsfähigkeit, zu stärken. Da ist die kindgerechte Psychoedukation eine wichtige Unterstützungsmaßnahme, um Ängste und Schuldgefühle bei den Kindern zu reduzieren. In Absprache mit Eltern werden die Kinder über die psychische Erkrankung der Eltern altersgemäß informiert. Denn viele wissen überhaupt nicht, was da passiert. Sie spüren zwar, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber die Eltern schweigen – aus Scham und Angst vor Stigmatisierung oder weil sie die Kinder nicht belasten wollen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Krankheitsaufklärung führt zu Entlastung! Kinder, die nicht genau Bescheid wissen, dass Mama oder Papa eine psychische Krankheit hat, beziehen die Probleme häufig auf sich und versuchen, sich das veränderte Verhalten der Eltern selbst zu erklären. Sie sagen zum Beispiel: „Weil ich mit dreckigen Fußballklamotten nach Hause gekommen bin, ist Mama so traurig und musste ins Krankenhaus.“ Manche Depression geht ja auch mit einer erhöhten Reizbarkeit einher und die Kinder denken dann fälschlicherweise, sie wären selbst daran schuld, dass der Papa oder die Mama so viel rumschreit. Meine Erfahrung ist: Je kleiner die Kinder, desto abenteuerlicher werden ihre Fantasien und Erklärungsversuche. Deswegen ist Krankheitsaufklärung, auch bei kleinen Kindern, so wichtig: Es wird den Kindern Wissen vermittelt und deutlich gemacht, dass sie nicht an der Erkrankung ihres Elternteils schuld sind.

 

Die Eltern sind da bestimmt involviert.

Ja, ich führe vorher immer ausführliche Elterngespräche. Ich kläre zum Beispiel ab, inwieweit die Eltern wollen, dass ich die Erkrankung auch mit ihrem Namen benenne. Manche wollen zum Beispiel nicht, dass ihre Kinder mit dem Begriff „Depression“ oder „psychische Krankheit“ konfrontiert werden. Dann biete ich an, von einer „unsichtbaren Krankheit“ zu sprechen. In einem Bilderbuch zur Psychoedukation, das aus vielen Gesprächen mit Kindern entstanden ist, wird erklärt, dass es neben allem Sichtbarem am Körper die unsichtbare Seele gibt, die aus allen Gefühlen und Gedanken besteht. Und dass dieses Unsichtbare in uns auch krank werden kann wie unser Körper. Es ist mir ganz wichtig, die Krankheitsaufklärung nur mit Erlaubnis der Eltern und nach genauer Absprache durchzuführen, damit die Kinder nicht in einen Konflikt geraten. Nach dem Kindergespräch lade ich dann auch immer noch mal die Eltern zu einem Gespräch ein.

Wo können weitere Bezugspersonen entlasten?

An welcher Stelle können Sie den Eltern noch helfen?

Ich berate die Eltern in Erziehungsfragen, gebe Hilfen im Umgang mit dem Kind – dazu biete ich in der Klinik wöchentlich eine Elterngruppe an –, erkläre, wie man mit dem Kind über die Krankheit zu Hause reden könnte, und unterstütze in Krisensituationen. Auch versuche ich diagnostisch zu erfassen, wie stark das Kind belastet ist, und kann dann bei Bedarf an niedergelassene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut:innen vermitteln. Zur Stärkung der Resilienz der Kinder gehe ich mit den Eltern auf die Suche, wer als zusätzliche stabile Bezugsperson aus der Familie oder Bekanntschaft für die Kinder zur Verfügung stehen könnte, wenn die Eltern aufgrund einer psychischen Krise überlastet sind und nicht für das Kind da sein können. Manchmal mache ich auch Video-Interaktionstraining mit den Eltern, da wird eine Spielsituation mit Mutter und Kind aufgenommen und dann gemeinsam mit der Mutter angeschaut, um zu sehen, wo und wie die Mutter gut mit ihrem Kind in Kontakt kommt und seine Entwicklung fördern kann.

 

Wie reagieren die Eltern?

Einige sind manchmal zunächst skeptisch gegenüber dem Angebot einer Krankheitsaufklärung für die Kinder, aber danach sind sie immer erleichtert, dankbar und oftmals angenehm überrascht. Die Rückmeldungen sind immer sehr positiv. Die Eltern berichten häufig, wie entspannt die Kinder sich nach den Aufklärungsgesprächen gegeben haben und dass sie auf der Heimfahrt im Auto zum ersten Mal offen mit dem Kind über ihre Krankheit gesprochen haben und auch das Kind sich erstmalig mit seinen Gefühlen geöffnet hat.  

 

Begleiten Sie die Kinder eigentlich über einen längeren Zeitraum?

Mit einigen bin ich über einen fortlaufenden Zeitraum in Kontakt, gerade wenn die Erkrankung des Elternteils chronisch verläuft. So kann ich im Verlauf die Kinder immer wieder und detaillierter aufklären. Aber es gibt auch Kinder, die ich nur ein- oder zweimal sehe, die keine Auffälligkeiten zeigen, bei denen ein psychoedukatives, entlastendes Gespräch ausreicht. Es gibt eben auch die robusten (resilienten) Kinder, die Belastungen besser wegstecken können, und dann wiederum gibt es andere, die einfach sensitiver sind und unter der Erkrankung des Elternteils stärker leiden. Da sind dann mehrere Termine nötig, um die Schutzfaktoren zu aktivieren.

Wie Eltern konkret unterstützt werden können

Treffen Sie in Ihrer täglichen Arbeit auch auf Eltern, die wiederum Eltern hatten, die eine psychische Erkrankung durchgemacht hatten?

Ja, das ist ein großes Thema. Es gibt betroffene Eltern in der zweiten Generation, die sagen, sie hätten damals als Kind mit ihren psychisch kranken Eltern eine Anlaufstelle wie die Kindersprechstunde gebraucht. In meiner Elterngruppe kämpfen die erkrankten Mütter und Väter häufig mit der Problematik, es für ihre Kinder besser machen zu wollen, aber dennoch immer wieder in die gleichen Muster fallen und Erziehungsmethoden, die sie als Kind erfahren haben und schrecklich fanden, auch bei den eigenen Kindern anwenden. Denn die eigenen Erfahrungen prägen natürlich das eigene Erziehungsverhalten.

 

Wie können denn Dritte, also Angehörige, Betreuer:innen, Lehrer:innen und Pädagog:innen die Signale von Kindern wahrnehmen und wie können sie von außen trotzdem die Kinder innerhalb einer betroffenen Familie unterstützen?

Ambulante Kräfte der Familienhilfe und Jugendsozialarbeiter:innen an Schulen haben oft einen guten und direkten Kontakt zu den betroffenen Kindern. Sie können den Kindern viel Raum geben und mit ihnen ohne Stigmatisierung über psychische Krankheiten reden. Sie können ihnen Möglichkeiten aufzeigen, mit der Situation umzugehen, Vertrauen aufbauen und ihnen die Hürde nehmen, sich zu öffnen und das manchmal selbst auferlegte Schweigen zu brechen. Auch die Elterngespräche sind enorm wichtig. Denn nur in Zusammenarbeit mit den Eltern kann in der Familie etwas positiv verändert werden.

 

Wenn jetzt die Eltern allerdings erst einmal abwehren?

Dann steckt da Angst dahinter und die muss ernst genommen werden. Wichtig ist es, nicht abwertend gegenüber psychisch erkrankten Eltern zu sein. Man kann auch vorsichtig die Symptome beschreiben, die man wahrgenommen hat, in etwa so: „Sie wirken auf mich in letzter Zeit sehr erschöpft/bedrückt/o.ä.“ und dann auf Hilfsmöglichkeiten und Anlaufstellen hinweisen. Die Fachkräfte können bei Auffälligkeiten des Kindes die Eltern fragen: „Haben Sie vielleicht eine Idee, warum ihr Kind so reagiert?“ Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind – auch wenn sie es nicht immer hinkriegen – und wenn man ihnen mit dieser wertschätzenden Haltung begegnet, kann man sie meistens dafür gewinnen, Hilfen zu suchen und anzunehmen.

 

Zur Person Livia Koller

Livia Koller ist Psychologische Psychotherapeutin mit Ausbildung in Kinder-und Jugendpsychotherapie und hat die Kindersprechstunde als Anlaufstelle in der Klinik für psychisch erkrankte Eltern und ihre Kinder aufgebaut. Die Kindersprechstunde, die 2007 als Pilotprojekt mit fünf Wochenstunden Beratungszeit angelegt war, füllt inzwischen eine Vollzeitstelle aus. Außerdem hat Livia Koller das Patenschaftsprojekt Compagnon ins Leben gerufen, in dem Ehrenamtliche als feste Bezugspersonen Kinder aus betroffenen Familien über längere Zeiträume begleiten und unterstützen.

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