Persönlichkeitsstörung: Was ist das eigentlich?
Autor: Dr. Leonhard Kratzer
„Wie es sich für mich anfühlte, mit einer Borderlinerin zusammen zu sein“ (Die Zeit), „Mutmaßlicher Mörder von Fritz von Weizsäcker leidet an Persönlichkeitsstörung“ (Berliner Zeitung), „Meine Mutter, die Narzisstin“ (Süddeutsche Zeitung): Persönlichkeitsstörungen faszinieren Menschen; Artikel über Persönlichkeitsstörungen generieren zuverlässig Klicks. Oftmals schwingt dabei auch mit: Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung sind böse oder gar gefährlich. Doch was ist das eigentlich, eine Persönlichkeitsstörung? Der Psychologe Dr. Leonhard Kratzer stellt die Störungsbilder vor – und welche Filme sich damit beschäftigen.
Die Viersäftelehre der Antike
Die Frage, wie sich menschliche Persönlichkeit beschreiben lässt und was eine gestörte Persönlichkeit ist, beschäftigt Menschen seit Jahrtausenden. Schon im sechsten Jahrhundert vor Christus finden sich im Corpus Hippocraticum Spekulationen darüber, inwiefern Körpersäfte die Persönlichkeit beeinflussen. Doch auch wenn diese Viersäftelehre längst als widerlegt gilt, kennen wir ihre Begriffe noch heute: „Mein Chef ist so ein Choleriker.“ – „Jetzt sei nicht so phlegmatisch!“ – „Ich bin heute irgendwie so melancholisch.“
Das „Big Five“-Modell der modernen Psychologie
Mit der Entwicklung der Psychologie als eigenständiger Disziplin begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der menschlichen Persönlichkeit. In Anlehnung an den Psychologen Gordon Allport, der 49 Definitionen von Persönlichkeit diskutierte und schließlich eine 50. vorstellte, wird unter der Persönlichkeit eines Menschen heute vereinfacht gesagt meist seine einzigartige Anpassung an seine Umwelt verstanden. Unzählige wissenschaftliche Untersuchungen kommen mit komplexen mathematischen Modellen faszinierenderweise immer wieder zu dem Ergebnis, dass fünf Dimensionen ausreichen, um die menschliche Persönlichkeit messgenau und gültig zu erfassen. Dieses Modell heißt „Big Five“-Modell und umfasst die Dimensionen emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Jede dieser Dimensionen weist wiederum unterschiedliche Facetten auf. So tragen zu der Verträglichkeit eines Menschen etwa sein Mitgefühl und seine Fähigkeit zu Vertrauen bei. Die Dimension Extraversion umfasst beispielsweise die Facetten Geselligkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Persönlichkeitstests, die auf diesem Modell beruhen, stecken Menschen nicht in Schubladen. Sie erteilen stattdessen Auskunft darüber, wie die Persönlichkeit eines Menschen von einer bestimmten Vergleichsgruppe abweicht.
Anders zu sein ist keine Störung
Normabweichung, das heißt sehr hohe oder sehr niedrige Ausprägungen eines Merkmals, ist noch kein Hinweis auf eine Persönlichkeitsstörung: Artikel 2 des Grundgesetzes garantiert jedem Menschen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Von Störungen kann nur dort gesprochen werden, wo Persönlichkeitsmerkmale für Betroffene oder andere Menschen über lange Jahre schweres Leid bedeuten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ausgeprägte Ängstlichkeit es verhindert, Freunde zu finden und einen Beruf auszuüben, oder wenn eine Neigung zu Manipulation, Unehrlichkeit und Grandiosität Menschen dazu veranlasst, immer wieder in krimineller Weise auf den Rechten anderer Menschen herumzutrampeln.
Moderne Konzepte der Persönlichkeitsstörung
In der ICD-11, dem neuen verpflichtenden Klassifikationssystem der WHO, werden Persönlichkeitsstörungen in einer mehrstufigen Abfolge diagnostiziert. Damit man eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren kann, muss erst einmal sichergestellt sein, dass der oder die Betroffene das Basiskriterium erfüllt. Das bedeutet zum Beispiel, dass mindestens über zwei Jahre ein für den Entwicklungsstand des Menschen unangemessenes Verhalten gezeigt wird, dass Abweichungen bezüglich Gedanken, Gefühlen und Verhalten bestehen, dass die Abweichungen Auswirkungen auf eine Vielzahl persönlicher und zwischenmenschlicher Situationen haben und – besonders wichtig – erhebliches Leiden und Funktionsbeeinträchtigungen bestehen. Funktionsbeeinträchtigungen entstehen zum Beispiel dort, wo man in Beziehungen einfach nicht klarkommt oder in Uni oder Beruf scheitert.
Wie kann man Persönlichkeitsstörungen beschreiben?
Aber was steckt denn nun hinter Persönlichkeitsstörungen? Welche Aspekte der Persönlichkeit sind besonders prominent und verursachen die Funktionsbeeinträchtigungen? Hier hat die Weltgesundheitsorganisation entschieden, dass eine Abwandlung des „Big Five“-Modells zum Einsatz kommen soll. Dieses beschreibt, wie oben skizziert, emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Wie können hier nun Störungen aussehen? Zum Beispiel kann ein Mangel an emotionaler Stabilität, ein Mangel an Extraversion, ein Mangel an Verträglichkeit oder ein Mangel an Gewissenhaftigkeit vorliegen. Gewissenhaftigkeit ist insofern spannend, als hier neben einem Mangel auch eine zu starke Ausprägung problematisch sein kann, nämlich dann, wenn Menschen perfektionistisch und rigide sind. Die Persönlichkeitsmerkmale im Modell der Persönlichkeitsstörungen bezeichnet man vor diesem Hintergrund als
- Negative Affektivität (zu wenig emotionale Stabilität)
- Dissozialität (zu wenig Verträglichkeit)
- Enthemmung (zu wenig Gewissenhaftigkeit)
- Anankasmus (zu viel Gewissenhaftigkeit)
- Distanziertheit (zu wenig Extraversion)
Und wie sieht das bitte konkret aus? Zwanghaftigkeit und Distanziertheit
Das Merkmal Anankasmus kann man auch Zwanghaftigkeit nennen. Es geht hier aber nicht um Menschen, die an einer Zwangsstörung leiden. Zwanghaftigkeit als Persönlichkeitsmerkmal beschreibt Menschen, die auch dann nicht aus ihrer Haut können, wenn ihre Art, Dinge zu erledigen, nicht gut funktioniert (Rigidität), und die sich mit ihrem Perfektionismus schaden, zum Beispiel, weil sie nie mit etwas fertig werden. Es geht bei Zwanghaftigkeit also nicht um Filmcharaktere wie Howard Hughes aus „Aviator“ oder Melvin aus „Besser geht’s nicht“, sondern um Menschen, die sich und andere mit ihren starren Regeln in den Wahnsinn treiben. Früher sprach man hier von zwanghaften Persönlichkeitsstörungen. Der Filmklassiker „Der blaue Engel“ liefert ein Beispiel.
Ein Mensch mit extremer Distanziertheit ist zum Beispiel im Film „About Schmidt“ porträtiert. Menschen, die hier hohe Merkmalsausprägungen aufweisen, können kalt und desinteressiert wirken. Darunter sind oftmals Sehnsucht, Angst und Aggression verborgen. Früher sprach man hier von der schizoiden Persönlichkeitsstörung.
Ein Mangel an emotionaler Stabilität: Borderline
Die einzige „Schubladen-Persönlichkeitsstörung“, die in der ICD-11 erhalten bleibt, ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das liegt nicht daran, dass sie in dem neuen Modell nicht sehr gut durch die Dimension emotionale Labilität erklärt werden könnte. Die Diagnose bleibt nur deshalb erhalten, weil die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Versorgung eine große Rolle spielt und es viele hervorragende Therapieformen und Spezialstationen gibt, die speziell für dieses Störungsbild entwickelt wurden. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist im Kern eine Störung der Emotionsregulation. Betroffene erleben sehr intensiv Gefühle, oft aber auch unerträgliche Anspannung, die in Taubheit (Dissoziation) übergehen kann, und oft mit Suizidgedanken und selbstverletzenden Verhalten einhergeht. Viele Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung erleben schreckliche innere Leere. Zugleich sind sie häufig feinfühlig, empathisch, kreativ und liebenswürdig. Wenn Betroffene lernen, ihren „Emotions-Ferrari“ sicher zu fahren, dann können sie tolle Freund:innen, Partner:innen oder Eltern sein. Der Film „Gegen die Wand“ vermittelt einen Eindruck davon, was es heißt, mit emotionaler Instabilität zu leben.
Die dunkle Triade: Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie
Der griechische Mythos von Narziss beschreibt einen Mann, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Der Begriff „Narzisst“ steht daher bis heute als Chiffre für arrogante und selbstverliebte Menschen. Wer früher die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bekommen hätte, kann heute weniger stigmatisierend so beschrieben werden, dass er oder sie übermäßig viel Dissozialität, vor allem in Form von Grandiosität, zeigt. Das äußert sich typischerweise so, dass Betroffene sich für wertvoller als andere Menschen halten und verlangen, dass diese sie bewundern. Daneben stieße man aber aller Voraussicht nach auf eine erhebliche Ausprägung von negativer Affektivität, da Betroffene eine schwere Selbstwertstörung aufweisen. Dieser Aspekt des Narzissmus, der weniger die Umwelt denn die Betroffenen selbst leiden lässt, fand in den alten Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung wenig Berücksichtigung. Der Film „American Psycho“ liefert ein drastisches Beispiel für Dissozialität im Allgemeinen und Grandiosität im Besonderen. Einen weiteren Eindruck vermittelt der Film „Wall Street“. „Das Schweigen der Lämmer“ hingegen beschreibt einen Fall von noch schwerer Dissozialität – hier hätte man früher von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gesprochen, die zum Beispiel durch Verantwortungslosigkeit, fehlende Reue, Aggressivität und Falschheit charakterisiert ist. Andere Konzepte, die häufig verwendet werden, wenn es um gefährliche Menschen geht, sind die der Psychopathie und des Machiavellismus. Narzissten sehen in anderen Menschen nur eine Quelle von Bewunderung. Machiavellisten hingegen heiligt der Zweck alle Mittel – sie sind hochgradig manipulativ und empathielos in der Verfolgung ihrer Ziele. Psychopathen sind impulsiv, kaltblütig und haben keine Angst vor Konsequenzen. Andere Menschen sind für sie Dinge. Manche Forscher:innen argumentieren, dass die Triade zu einer Tetrade erweitert gehörte, da Sadismus mit den drei anderen Eigenschaften stark zusammenhängt und eine weitere zentrale Eigenschaft destruktiver und ausbeuterischer Persönlichkeiten ist.
Was ist Psychotizismus?
Wer genau aufgepasst hat, der oder dem ist vielleicht aufgefallen, dass die problematischen Persönlichkeitsmerkmale alle eine zu starke oder zu geringe Ausprägung von vier der fünf Merkmale des „Big Five“-Modells beschreiben. Was ist eigentlich mit Offenheit? Zu viel Offenheit, z. B. zu viel Einfallsreichtum, wird von einigen Forscher:innen mit Psychotizismus in Verbindung gebracht. Die Weltgesundheitsorganisation sieht darin aber eher ein Risiko für die Entwicklung einer Psychose als ein problematisches Persönlichkeitsmerkmal. Ein Mensch mit ausgeprägtem Psychotizismus ist im Film „Taxi Driver“ dargestellt.
Wie entstehen Persönlichkeitsstörungen?
Wir alle kommen nicht zuletzt aufgrund unserer Gene mit einem bestimmten Temperament auf die Welt. Das ist Schicksal. Unsere Persönlichkeit entsteht dann durch das Wechselspiel unseres Temperaments mit unseren zwischenmenschlichen Erfahrungen. Wenn ein sehr temperamentvolles Kind, das intensiv fühlt, liebende, geduldige und fürsorgliche Eltern hat, dann wird es aller Voraussicht nach zu einem glücklichen und gesunden Erwachsenen heranwachsen. Sind die Eltern jedoch überfordert und vermitteln dem Kind seine ganze Kindheit hindurch, dass etwas nicht mit ihm stimmt, dass es falsch fühlt, dass es „zu viel“ ist, dann kann beispielsweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entstehen. Psychologische Modelle betonen meist, dass Menschen mit Persönlichkeitsstörungen frustrierte Bedürfnisse, schädliche Annahmen und problematische Bewältigungsmuster haben. Wer zum Beispiel nie die Erfahrung gemacht hat, jemandem wichtig zu sein, der oder die glaubt vielleicht, dass er oder sie gar nichts zu bieten hat und andere sich nie interessieren werden. Wenn der Hunger danach, jemandem wichtig zu sein, aber einfach zu groß wird, dann beginnen Betroffene manchmal, zu manipulieren. Das heißt einfach nur, dass sie andere zu einem Verhalten bringen wollen, von dem sie glauben, dass diese es nicht „einfach so“ von selbst zeigen. Dann drängen sie sich vielleicht in den Vordergrund oder machen ein großes Drama. Das gibt zwar etwas Aufmerksamkeit, aber so richtig ans Herz wächst man so niemandem. Die Annahme, dass andere sich nicht wirklich für einen interessieren, wird bestätigt. Ein Teufelskreis beginnt …
Kann man Persönlichkeitsstörungen behandeln?
Persönlichkeitsstörungen können wirksam behandelt werden. Besonders gut geeignet und belegt sind die Dialektisch-Behaviorale Therapie, die Schema-Therapie, die Mentalisierungsbasierte Therapie und die Übertragungsfokussierte Therapie. Meist bedeutet die Behandlung einer Persönlichkeitsstörung einen langfristigen und anstrengenden Weg. Doch es lohnt sich!
Was für eine Persönlichkeit habe ich? Oder habe ich gar eine Persönlichkeitsstörung?
Eine seriöse Diagnostik von Persönlichkeitsmerkmalen oder gar -störungen ist anspruchsvoll und zeitaufwändig und kann nur durch sehr gut geschulte Psycholog:innen oder Ärzt:innen erfolgen. Leider ist das Web voll von ungültigen, wenig messgenauen und teilweise gefährlichen Persönlichkeitstests. So gelten beispielsweise die Persönlichkeitstypen, mit denen man sich auf Tinder beschreiben kann, Psychologinnen und Psychologen als grober Unfug. Aber gibt es denn gar keine Möglichkeit, kostenlos und unkompliziert an eine wissenschaftlich fundierte Einschätzung der eigenen Persönlichkeit zu gelangen? Doch, die gibt es. So kann man unter diesem Link der Uni Leipzig die 60 Fragen des „Big Five Inventory 2“ von Soto und John (2017) beantworten und erhält eine Auswertung. Diese ist so gut grafisch aufbereitet, dass man sich über die mathematischen Feinheiten kaum Gedanken machen muss. Man sieht direkt, ob man mit seinen Persönlichkeitseigenschaften jeweils „im Mittelfeld“ liegt oder ob es spannende Abweichungen nach oben oder unten gibt und wie stark diese sind.
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- Peter Fiedler & Sabine C. Herpertz: Persönlichkeitsstörungen