Das war die erste GOLDKIND-Konferenz: Über dysfunktionale Familien, ihre strukturellen Auswirkungen bis ins Erwachsenenleben hinein und die Re-Delegation von Schuld sprechen Dr. Pablo Hagemeyer, Psychiater und Beirat von GOLDKIND, und Daniel Fürg auf der ersten GOLDKIND-Konferenz im Münchner ARRI-Kino.
„Kinder haben ja erst mal keine andere Erziehung gelernt. Die wachsen in dem System auf, in dem sie nun mal aufwachsen, und kennen es nicht anders“, konstatiert eingangs GOLDKIND-Podcaster Daniel Fürg. Experte Dr. Pablo Hagemeyer ergänzt, dass es oftmals für ein betroffenes Kind schwierig sei, sich Dritten zu öffnen. Denn es könne eine objektive Wahrheit manchmal nicht wahrnehmen, wenn es von Mutter und Vater oft unterschiedliche Wahrheiten erzählt bekomme. „Der kann eigentlich beiden nicht glauben!“ Einem Dritten wird dann erst einmal mit Misstrauen begegnet.
Die Schuld liege aber niemals beim Kind. Daniel Fürg, der selbst aus einer dysfunktionalen Familie stammt, zitiert selbstironisch, was ihm einst seine Großmutter sagte: „Ja, du warst ja auch nicht einfach.“ Dr. Pablo Hagemeyer: „Ein Kind ist per Gesetz noch nicht reif. Erst mit 18 ist es volljährig. Die Gehirne sind noch unreif. Also sind sie in einer großen Abhängigkeit. Sie können die Verantwortung noch gar nicht übernehmen.“ Oft wollen nicht einmal die mittlerweile erwachsenen Patient:innen ihre Eltern nicht mit der Schuld für eine unschöne Kindheit konfrontieren, obwohl ihnen objektiv dadurch kein Schaden mehr entstehen könne. Wenn man an dieser Stelle die Begrifflichkeit der Schuld mit Verantwortung ersetzte, käme man in der Diskussion weiter.
Heute Erwachsenen, die als Kind eine dysfunktionale Familiensituation erlebt haben, kann es helfen, nach dem „Wofür“ einer Therapie zu fragen, statt sich ständig mit ihrem „inneren Kind“ zu beschäftigen. Das erlaube es Patient:innen, das als schlecht Erlebte zu integrieren, statt in alte Muster zu verfallen und angesichts der Traumasituation die Kontrolle zu verlieren. Dr. Hagemeyer schlägt vor, die schrecklichen Erinnerungen gedanklich wegzuräumen: „Ich steck jetzt diese Geschichte in ein schwarzes Buch und stell sie ins Regal. Dann habe ich die Kontrolle.“
Wie kann ich einem Kind helfen?
„Wir müssen viel Geduld haben, wenn wir das Kind nicht so erreichen, wie wir es erreichen wollen“, sagt Dr. Pablo Hagemeyer. „Es ist toll, wenn Kinder die Plattform von GOLDKIND erreichen oder erreichen wollen. Aber manchmal müssen wir auch warten, bis das Kind ein bisschen älter wird.“ Damit es Merkmale in seinem Umfeld erkennen kann, seien unter anderem die Pädagog:innen mit ihrer Sensibilität für das Thema oder alle Personen im Umfeld gefordert, hinzusehen und Zivilcourage zu zeigen.
Wichtig sei es, die Kinder in einen Kontext zu bringen, der sie nicht isoliert. Denn das ist es, was dysfunktionale Eltern tun, sagt Dr. Pablo Hagemeyer, weil sie dann Einfluss und Kontrolle behalten. In Begegnungen könnten die Betroffenen merken, dass andere Familie ganz anders sind als die eigene.
Psychische Gewalt
„Wir haben in den letzten Jahrzehnten ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass physische Gewalt gegen Kinder ein No go ist. Wie schaffen wir diese Entwicklung auch mit psychischer Gewalt?“, fragt Daniel Fürg. „Wie kriegen wir es hin, dass es nicht lapidar abgetan wird mit: ‚Mach mal kein Drama draus‘?“
Dr. Pablo Hagemeyer plädiert in diesem Zusammenhang für Psychoedukation. „Wir sind in einer Zeit, wo wir lernen müssen, was psychische Gewalt ist.“ Man müsse vermitteln, erziehen. Auch und gerade im Fachbereich der Gerichtsbarkeit, wo Schutzreaktionen wie ein Freeze (Erstarren, Sprachlosigkeit) aufgrund von erlebten Gewaltsituationen seitens der Richter:innen und Anwält:innen oft als fehlender Widerstand gewertet würden.
Aufklärung über Depressionen, Angsterkrankungen oder Narzissmus ist nötig
Eine Aussage wie ‚Du bist ein Narzisst‘ sei ein möglicher Einstieg ins Thema, um erst einmal ausführlicher über Probleme zu reden. Aber: „Wir müssen Stories erzählen, die einem das Thema näherbringen“, sagt Dr. Pablo Hagemeyer.
Wie die Geschichte vom angebrannten Toast als Beispiel dafür, wie langlebig dysfunktional erlebte Familienstrukturen bei den Betroffenen im Erwachsenenalter nachwirken können. Hagemeyer: „Manchen Personen schmeckt es, weil sie es nur so kennen.“ Als Erwachsene wisse man, es ist nicht gesund, in einen angebrannten Toast zu beißen. „Wir machen es aber trotzdem. Wir kommen gar nicht auf die Idee, einen Toast zu essen, der nicht verbrannt ist. Wir lehnen es sogar ab. Man befürchtet sogar, mit dem nicht verbrannten Toast nicht das zu bekommen, was man tatsächlich benötigt, sondern verfällt zurück auf das, was man meint zu brauchen. Man sucht also das, wo man sich zu Hause fühlt.“
Das gesamte Konferenzprogramm zum Ansehen gibt es hier.