Prof. Dr. Michael Borg-Laufs

Interview mit Prof. Dr. Michael Borg-Laufs

Wie sozialpädagogische Fachkräfte Störungen erkennen und individuell helfen können

Prof. Dr. Michael Borg-Laufs

GOLDKIND-Beirat Prof. Dr. Michael Borg-Laufs hat sein ganzes Berufsleben der Ausbildung von psychologischen Fachkräften gewidmet. Er hat Studieninhalte vereinheitlicht und unzähligen Studierenden seine Erfahrungen aus der praktischen Arbeit mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen nähergebracht.

 

Nun hat er für Fachkräfte der Sozialen Arbeit ein Fachbuch geschrieben, das ihnen im Umgang mit erkrankten jungen Menschen Orientierung bietet. „Psychologie für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen“ soll einen Perspektivwechsel auf die Betroffenen aus verschiedenen Facetten ermöglichen, sagt Professor Michael Borg-Laufs.

 

Der Psychologe und Psychotherapeut legt nicht nur die häufigsten Störungen und deren Auslöser dar, sondern erklärt sie an Fallbeispielen und gibt praktische Empfehlungen. Mit GOLDKIND hat Borg-Laufs im Interview darüber gesprochen, wieso er immer die Person als Ganzes betrachtet und wie Sozialpädagog:innen handlungsfähig bleiben.

GOLDKIND: Was ist das Wichtigste, was Sie pädagogischen Fachkräften mitgeben wollen?

Prof. Dr. Michael Borg-Laufs: Fachbücher zu psychischen Krankheiten handeln oft nur die verschiedenen Störungsbilder nacheinander ab. Auch ich stelle die zehn häufigsten Störungsbilder vor. Aber in der Fachliteratur fehlt mir zu oft die übergreifende Sicht. Wir können nicht alles nur mit den Störungsbildern begreifen. Da spielen ganz andere Faktoren mit, zum Beispiel Grundbedürfnisse, Gedanken, Emotionsregulation etc. Der einseitige Blick aufs Kind reicht halt nicht aus. Unsere jungen Klient:innen sind komplexe Wesen. Manchmal ist es einfach, da braucht man nur eine helfende Beziehung zu dem jungen Menschen. In den schwierigen Fällen allerdings muss ich als Fachkraft der Komplexität der Situation gerecht werden. Dafür versucht das Buch als Anleitung zu geben.

Dem Buch ist ein Befundbogen angehängt, mit dessen Hilfe das Störungsbild des jungen Menschen im Detail erfasst werden kann, aber auch weit darüber hinausreichende Merkmale. Dabei ist die Motivation einer der Hauptpunkte.

Wir Psychotherapeut:innen und auch die sozialpädagogischen Fachkräfte müssen immer die Motivation anschauen. Viele Therapien scheitern daran, dass die Menschen aus verschiedenen Gründen Motivationshemmnisse haben, zum Beispiel, weil sie resigniert sind oder weil sie nicht genügend Ressourcen zur Verfügung haben. Die Motivation ist ein Hauptproblem innerhalb der Sozialen Arbeit. Wir sollten hier nach dem Kern dieses Problems schauen: Was hält die Patient:innen davon ab, in Veränderung zu kommen?

Wie motiviert man denn jemanden überhaupt dazu, eine Veränderung herbeizuführen?

Wir tun Dinge, weil irgendwas dabei rausspringt. Das muss nicht immer eine Süßigkeit oder eine Belohnung sein. Es kann auch etwas sein, was unseren Selbstwert erhöht, oder etwas, womit wir Ängste vermeiden können. Das gilt für Erwachsene wie Jugendliche und Kinder.

Sind Kinder einfacher zu motivieren?

Im Extremfall ja. Wenn jemand 50 Jahre alt ist und 40 Jahre das gleiche Muster gefahren hat, dann ist dieses schwerer zu durchbrechen. Aber auch Kinder können schon hochresigniert sein, deren Selbstwertgefühl kann total am Boden liegen. Und das hält davon ab, in Veränderung zu kommen. Deswegen: Eher nein. Kinder sind nicht einfacher zu motivieren.

Sie sagen ja, dass man umfassend alle Faktoren berücksichtigen muss, die ein Kind in seinem Verhalten prägen. Kinder sind jedoch immer einem System ausgesetzt, das sie umgibt und das sie nahezu nicht beeinflussen können.

Das ist Segen und Fluch zugleich. Es liegt natürlich eine große Chance darin, wenn man als Therapeut:in oder Sozialpädagog:in vertrauensvoll mit Familie und Schule zusammenarbeiten kann. Da hat man gute Möglichkeiten. Bei Erwachsenen habe ich zum Beispiel keinen Zugriff auf deren Chef:innen. Das Risiko ist hingegen, dass die Kinder völlig abhängig von ihrem System sind. Wenn die Eltern und Lehrer:innen ein sechsjähriges Kind nicht mögen, dann kommt es nicht raus aus dem System. Hier hat man bei Erwachsenen weit mehr Möglichkeiten. Die Kinder haben nun mal die Eltern und Lehrkräfte, die sie haben.

Welche Handlungsoptionen gibt es da?

Wenn die Eltern und Lehrkräfte nicht in der Lage sind zu handeln und wenn es gar nicht geht, dann muss man das Kind rausnehmen aus dem System, dann sind Inobhutnahmen und die Jugendhilfe gefragt.

Inwieweit kann eine sozialpädagogische Fachkraft überhaupt eingreifen, wenn sie mit dem Befundbogen erst mal eine Schieflage erkannt hat?

Es ist nicht die Aufgabe der jeweiligen Fachkraft, eine Diagnose zu erstellen. Aber jemand mit entsprechender Kenntnis kann ein Kind zur Diagnose schicken. Zum Beispiel, wenn man das Gefühl hat, da müsste mal jemand draufgucken, ob vielleicht ein Störungsbild vorliegt. Manchmal ist das Problem einfach zu erkennen, eine Spinnenphobie zum Beispiel. Aber meist gibt es viel komplexere Zusammenhänge: Beispielsweise ein Jugendlicher, der emotional überschäumt. Ist das Borderline? Oder ADHS? Oder eine maskierte Depression? Oder einfach nur eine Auswirkung der Pubertät? Das ist nicht so einfach zu unterscheiden. Man muss sich immer fragen: Ist das Verhalten starr und nicht änderbar? Ist jemand immer wieder in den gleichen Situationen überfordert? Sehe ich ein wiederkehrendes Muster? Daran könnte ich merken, dass da etwas in der Person ist, das zu diesem Verhalten führt.

Was wäre ein konkretes Beispiel für einen solchen Fall?

Zum Beispiel bei Ängsten: Für eine:n Sozialpädagog:in wäre Ermutigung das Mittel der Wahl. Das greift möglicherweise aber nur bei Kindern, die lediglich ein bisschen ängstlich sind. Wenn ein Kind mit einer tiefgreifenden Phobie derart ermutigt wird, ist es für das Kind oft nur ein Signal, dass es nicht ernst genommen wird. Oder ein junger Mensch, der nicht zuhört und unruhig ist, der keine Grenzen einhält: Wenn man hier mit Maßnahmen nicht weiterkommt, dann sollte man vielleicht mal auf ADHS prüfen lassen.

Wie wichtig ist im weiteren Verlauf dann die Zusammenarbeit zwischen Therapeut:in und Sozialpädagog:in?

Die Situation in der Sozialen Arbeit ist angespannt, die Leute werden derzeit vom Arbeitsmarkt regelrecht „weggeklaut“. Die Betreuenden haben deshalb oftmals nicht viel Zeit für den Einzelfall. Aber im Kinderbereich wissen eigentlich alle gut ausgebildeten Menschen, wie zentral die Zusammenarbeit ist. Ein:e Therapeut:in arbeitet immer netzwerkorientiert. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich Familienhilfe und Therapeut:in absprechen und gemeinsam mit dem Kind arbeiten. Sonst gibt ein:e Sozialpädagog:in vielleicht ganz andere Ratschläge als ein:e Therapeut:in. Je Konstellation ist die Zusammenarbeit aber unterschiedlich eng. Eine Phobie kann man beispielsweise allein in der Therapie gut behandeln, ohne sich mit den anderen Helfenden abzusprechen. Aber bei einer Störung des Sozialverhaltens zum Beispiel ist es zentral, dass die Hilfsdienste zusammenarbeiten, um die gemeinsamen Ziele zu erreichen.

Um noch mal auf das Buch zurückzukommen: Was sind die häufigsten Störungen, denen die sozialpädagogischen Kräfte in ihrer Arbeit begegnen?

Das sind Depressionen und Ängste. In jeder Altersstufe und im Kindesalter mehr noch als bei den Erwachsenen. ADHS und Störungen des Sozialverhaltens sind Probleme, mit denen man ebenfalls häufiger konfrontiert ist. Auch weil diese Kinder stören. Ein ängstliches Kind kannst du mit Puppen in die Ecke setzen und dann ist es still. Da ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass das Kind „aufträgt“. Bei jemandem mit ADHS sucht man eher ein Hilfesystem auf, weil da das Umfeld mehr leidet und geneigter ist, Hilfe zu holen.

Führt das nicht zu einem Ungleichgewicht?

Sicher, darin liegt natürlich eine Gefahr, die Kinder mit Ängsten oder Depressionen zu übersehen. Ein:e Lehrer:in und Sozialpädagog:in muss das im Mindset haben und alle Kinder im Blick haben.

Sollten sich Lehrer:innen deshalb auch mit entsprechender Fachliteratur fortbilden?

Unbedingt. Es ist sehr hilfreich für Lehrkräfte, für Kinder mit Störungen Verständnis zu entwickeln. Wenn die Lehrkräfte bei einem Kind nur das aggressive Verhalten sehen, dann verschlechtert sich automatisch die Beziehung zwischen den beiden. Mit einem besseren Verständnis kann man die Beziehung viel besser halten. Wenn sich junge Menschen abgewertet fühlen, ist sofort etwas verloren. Sie müssen in den Dingen geschätzt werden, wo sie liebenswert sind. Erst auf dieser Beziehung aufbauend kann man dann geeignete Interventionen vorschlagen.

Jeder Mensch, der mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, entwickelt Routinen im Umgang damit. Ist das überhaupt hilfreich, um ihnen individuell und unvoreingenommen begegnen zu können?

Wenn man über die Fälle nachdenkt und kritisch damit ins Gericht geht, wird man im Laufe des Berufslebens besser. Es gibt aber auch Kolleg:innen, die in Routinen versinken und nicht mehr zur Kenntnis nehmen, was es an neuen Forschungsergebnissen gibt. Man darf niemals denken: Das ist schon so wie immer. Man muss jeden Fall individuell anschauen. Es ist eben nicht immer das gleiche. Nicht alle aggressiven Kinder haben das gleiche Problem. Man darf sich bloß nicht zu früh in Sicherheit wiegen. Ich muss mich dem jungen Menschen widmen und beobachten, dann lerne ich auch was vom Kind. Das ist auch ein bisschen abhängig davon, wie gut ich mich selbst dem Ganzen öffnen kann.

Eine überraschende These aus Ihrem Buch ist die Wichtigkeit des Lustgewinns innerhalb der Therapie von jungen Menschen.

Alle Beteiligten, die jungen Menschen, die Therapeut:innen, Sozialpädagog:innen, Lehrkräfte und Eltern brauchen Inseln des Gelingens im Alltag. Wenn man gemeinsam eine schöne Zeit hat, dann verändert sich auch die gegenseitige Beziehung. Dann werden Veränderungen einfacher. Für Menschen ist es generell gut, wenn sie wissen, wie sie sich Lust verschaffen können, wie sie sich für etwas interessieren und nicht nur die Zeit totschlagen. Es ist toll, wenn sie etwas entdecken, das ihnen etwas bedeutet, wie sie für ihre Band, für Fußball, ein Musikinstrument oder etwas anderes brennen. Das hinterlässt so viel mehr Gutes als durch Tiktok zu scrollen und sich lediglich die Langeweile zu vertreiben. Das ist der Unterschied zwischen Lustgewinn und Unlustvermeidung: Das Scrollen dient nicht dazu, mich gut zu fühlen.

Psychologie für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen (Psychologie für Soziale Berufe), erschienen 2025 bei Beltz Juventa, Weinheim, ISBN: ‎ 978-3779961406.

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