Erfahrungsbericht von Franziska Hohmann

„Wenn meine Mutter angstgeschüttelt im Bett lag, musste ich übernehmen.“

Schon als Fünfjährige wusste Franziska Hohmann, wie man Haferbrei kocht. Sie zog sich einfach einen Hocker an den Herd, um hoch genug heranzureichen, und achtete umsichtig auf die heiße Platte. „Neun Uhr morgens war eine heikle Zeit. Wenn sie um neun noch im Bett lag, lohnte es sich nicht mehr aufzustehen. Für die kleine Fränzi hingegen bedeutete dieser Neun-Uhr-Moment, dass sie versuchen musste, ihrer Mama den Tag so angenehm wie möglich zu machen. Und dass sie deswegen wahrscheinlich nicht in den Kindergarten gehen würde“, schreibt sie heute.

Damals hatte ihre alleinerziehende Mutter Tage, an denen sie wegen der Depression nicht einsatzfähig war. Franziska Hohmann lernt schnell, für die Mutter zu sorgen. Sie wird zu einer klassischen „Young Carer“, einer jungen Pflegenden, übernimmt die Elternrolle. Eine Situation, die sie ihr Leben lang belasten wird und die sie schon im ganz frühen Teenager-Alter zum Alkohol greifen lässt. Sie hat nun gemeinsam mit der Journalistin Nina Faecke darüber ein Buch geschrieben: „Gut, dass du nicht mehr da bist“ (Heyne Verlag).

„Ich habe das typische Verhalten von parentifizierten Kindern übernommen“, sagt die Managerin im Interview mit der Stiftung GOLDKIND. „Ich nehme immer schnell die Stimmungen im Raum war, schaue sofort, dass es anderen gut geht.“

Eine Dreiecksbeziehung zwischen Mutter und Tochter und der Depression

Bereits kurz nach der Geburt leidet die Mutter unter postnataler Depression. Franziska, genannt Fränzi, kommt mit gerade Mal drei Monaten in die Obhut einer Ersatzmutter, die sie zwei Jahre lang begleitet – der Anfang einer Reihe von Fremdbetreuungen für Fränzi. Mit vier Jahren kommt sie wieder zu ihrer Mutter. Als Franziska in der zweiten Klasse ist, verschlechtert sich der Zustand der Mutter erheblich. Onkel, Tante und Pflegefamilien übernehmen die Eltern-Rolle. „Meine Mutter, die Depression und ich haben eine Dreiecksbeziehung geführt“, sagt Franziska Hohmann heute. „Wenn meine Mutter wieder angstgeschüttelt im Bett lag, musste ich übernehmen.“

Darum kommt sie schon mit neun Jahren auf ein Internat. Was für andere Kinder oft einen schwierigen Einschnitt darstellt, erlebt die Grundschülerin als absolut positiv: „Das Internat war meine Rettung!“ Sie findet schnell eine beste Freundin, das strukturierte Internatsleben bietet endlich Konstanz. Das Zusammenleben mit anderen fällt Franziska Hohmann, die sich als ziemlich resilient und anpassungsfähig beschreibt, viel leichter als das mit der Mutter, „die immer schwankte zwischen himmelhochjauchzend bis tiefer Fall“.
Aber da sind ja noch: die Ferien. Wenn Fränzi dann zu Hause ist, versucht sie alles, um für die Mutter da zu sein, macht mit ihr eine Schlafentzugstherapie, verbringt mit der Mutter Silvester in einer psychiatrischen Klinik. Die Tochter ist da gerade mal 12 Jahre alt.

Immer heißt es, vorsichtig zu bleiben, stets die Stimmungslage der Mutter abzutesten, selbst dann, wenn man wie andere Kinder einfach mal nur eine Jeans haben wollte. „Die Gesichtszüge der Mama verrieten Fränzi, dass da noch Spielraum war. Sie dürfte jetzt nur nichts Böses sagen“, schildert Franziska Hohmann in ihrem Buch. „Auf keinen Fall sollte sie den Sommerurlaub anführen, der ausgefallen war, weil ihre Mama wieder einmal nicht aus dem Bett aufstehen konnte.“

Einen Anker bietet das Internatsleben. Doch auch dort gibt es Schattenseiten, berichtet sie heute: „Ich kam schon früh mit Alkohol in Berührung. Ich merkte schnell, dass ich damit meine Nervosität in den Griff bekam. Man fühlt nicht mehr so viel mit Alkohol, ist nicht so ängstlich.“ Dieses beschwingte, leichtlebige Gefühl sucht sie immer wieder, bald ist der Alkohol ein ständiger Begleiter. Fränzi geht regelmäßig betrunken in den Sportunterricht. Sogar die Abi-Feier habe sie nur mit kleinen Shots in der Handtasche überstanden, erzählt sie.
Heute ist Franziska Hohmann seit sieben Jahren trocken, auch die Krankheit der Mutter und deren Tod übersteht die 47-jährige Musik-Managerin ohne einen Rückfall.

„Nur manchmal gab es Phasen tiefer Traurigkeit“

Rückblickend sagt sie im Interview: „Ich habe die Situation mit meiner Mutter früher nicht so schlimm empfunden. Aber auch das kann eine Folge des Traumas sein, das ich hatte.“

Zwar hat die junge Fränzi mit großer Selbstständigkeit das Familienleben mitgetragen, doch das Gefühl, alleingelassen zu sein, bleibt. Und das äußert sich auf vielen Ebenen: „Meine Mutter hat niemals Partei für mich ergriffen. Wenn ich Streit mit anderen Kindern hatte, suchte sie immer nach dem Punkt, an dem ich schuld war. Mit dem Alkohol hat sich das plötzlich alles leichter angefühlt. Damit wurde ich zur Anführerin. Nur manchmal gab es Phasen tiefer Traurigkeit, die sich ab und an ihren Weg bahnte. Über Erfolge konnte ich mich zum Beispiel nie freuen, das habe ich mir nie erlaubt wegen meiner Mutter.“ Anvertraut hat sie sich der Mutter dennoch nicht. Zwar ist die Depression der Mutter zeitweise besiegt, als Franziska 15 Jahre alt ist, aber da hat schon ein anderes Gefühl übernommen: „Mich hat lange Zeit eine Wut auf meine Mutter begleitet.“

Es braucht eine lange Zeit, bis sie sich dem Thema stellt. Vor sieben Jahren hat sie – seitdem ist Franziska Hohmann “trocken” – nach einem absoluten Tiefpunkt eine Sucht-Therapie begonnen und angefangen, sich mit dem Thema Parentifizierung auseinanderzusetzen Sie arbeitet als systemische Coachin und lässt sich zur Resilienztrainerin ausbilden. Heute sagt sie, sie hätte sich gewünscht, dass ihr bereits früher jemand zu einer Therapie geraten hätte. Das Angebot an spezialisierten Therapiemöglichkeiten in Deutschland jedoch sei derzeit immer noch zu klein. Außerdem werde zu wenig in Selbsthilfegruppen für Kinder in Young-Carer-Situationen investiert, bemängelt sie.

Wichtig wäre nämlich auch eine therapeutische Begleitung in der Kindheit gewesen. Franziska Hohmann unterstreicht, sie wünsche sich, dass man heute genauer hinsehe bei den jungen Menschen und nicht wegschaut, wie bei ihr damals. „Kinder sind doch meistens orientierungslos. Ich hätte mir eine Aufklärung gewünscht, dass ich nicht schuld bin, dass das, was ich tue, das Kümmern und Aufpassen auf meine Mutter, nicht meine Aufgabe ist als Kind. Ganz klar hätte ich eine Gesprächshilfe gebraucht.“ Mit ihrem aktuellen Buch, das im Heyne-Verlag erschienen ist, versucht Franziska Hohmann nun, aufzuklären – damit Kinder und Jugendliche frühzeitig Hilfe erfahren, wenn sie in einer ähnlichen Situation stecken. Unter den Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche im Anhang ist auch die Stiftung GOLDKIND aufgeführt.

Gut, dass du nicht mehr da bist: Die toxische Beziehung zu meiner Mutter – und wie ich lerne loszulassen – SPIEGEL-Bestseller.

Von Franziska Hohmann und Nina Faecke
Erschienen am 10. September 2025 (Heyne Verlag)

ISBN: 978-3453607118 

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