Trauma erkennen und begreifen – wie können Kinder und Jugendliche begleitet werden?
Fachartikel von Marie Köster
Traumatische Ereignisse erschüttern nicht nur die betroffene Person selbst, sondern das ganze System um sie herum. Das Wohlbefinden leidet, das Funktionieren im Alltag ist erschwert. Kinder und Jugendliche sind in ihrer Entwicklungsphase besonders gefährdet und benötigen besondere Hilfestellung. Was ist ein Trauma überhaupt und was kann ein Trauma auslösen? Welche Folgen kann ein Trauma für Betroffene haben und wie können Kinder und Jugendliche behutsam durch krisenhafte Zeiten begleitet werden?
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betroffenen Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es wird auch als seelische Verletzung beschrieben. Dabei wird ein Trauma sehr individuell erlebt und geht mit Gefühlen wie Furcht, Hilflosigkeit und Grauen einher. Die Entwicklung eines Traumas kann durch verschiedene Faktoren begünstigt oder abgeschwächt werden. Ein traumatisches Ereignis erschüttert immer die ganze Persönlichkeit der betroffenen Person. Besonders traumatische Erfahrungen in den ersten Lebensjahren hinterlassen ein Gefühl einer ernsthaften Bedrohung für das eigene Leben und stellen das Weltbild und das Urvertrauen in Frage. Dadurch kann das Fundament für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit zerstört werden.
Als traumatisierend werden vor allem Ereignisse erfahren, die mit dem Erleben von Gewalt einhergehen.
In der Fachwelt unterscheidet man verschiedene Typen von Traumata:
- Interpersonelle Traumata sind erlebte, von anderen Menschen ausgeführte Ereignisse wie negative Bindungserfahrungen, sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt und auch organisierte Gewalt.
- Akzidentielle Traumata umfassen schwere Unfälle, berufsbedingte Bedrohungen (zum Beispiel durch die Arbeit bei der Polizei oder im medizinischen Bereich) oder Naturkatastrophen wie Erdbeben.
- Zu den medizinischen Traumata gehören Ereignisse wie Frühgeburten, schwere körperliche Erkrankungen in frühen Lebensjahren oder chronische Erkrankungen.
Traumatische Erfahrungen kann man auch als tiefgreifende Stresserlebnisse beschreiben, da es zum Zeitpunkt einer solchen Erfahrung in unseren Körpern zu massivem Stresserleben kommt und viele Hormone ausgeschüttet werden, die die natürlichen Schutzmechanismen der Psyche und des Körpers aktivieren. Man verdrängt das Problem oder verlagert den psychischen Stress so, dass sich körperliche Symptome zeigen, etwa Bauchweh oder Kopfschmerzen. Oder man wertet andere Menschen oder Erlebnisse stark ab, um die Spannung abzubauen. Das soll dafür sorgen, dass der Mensch ein solches Bedrohungserlebnis überstehen kann.
Das körpereigene Stressverarbeitungssystem speichert diese Erfahrungen ab und aktiviert die bewährten Bewältigungsmechanismen in ähnlichen Situationen wiederholt, um den Menschen zu schützen. Dementsprechend beeinflussen traumatische Erfahrungen das allgemeine Wohlbefinden und Verhalten und steuern die Wahrnehmung des Äußeren.
Nur wenn eine betroffene Person diese Prozesse aktiv wahrnimmt und diese bearbeitet, kann das eine Veränderung bewirken. Oftmals geschehen diese Vorgänge aber unbewusst und schränken die eigene Heilung ein. Das führt zu Einschränkungen im Alltag und löst immer wieder neue Traumareaktionen und auch Traumafolgeerkrankungen aus.
Welche Folgen kann ein Trauma haben?
Unmittelbar nach dem erlebten Trauma treten akute Belastungsreaktionen auf. Diese äußern sich in Ängsten, Vermeidungsbemühen, Scham- und Schuldgefühlen und werden als unkontrollierbar beschrieben. Solche Belastungsreaktionen erleben viele Menschen im Laufe ihres Lebens, sie klingen normalerweise nach einigen Wochen von selbst wieder ab und stellen eine ganz normale Reaktion auf ein herausforderndes Ereignis dar.
Wenn zeitlich verzögert zu dem erlebten Ereignis zusätzliche Symptome auftreten, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Dazu gehören Symptome wie Flashbacks, Albträume, Vermeidungsverhalten, emotionale Taubheitszustände und/oder Veränderungen im Erregungsniveau wie Schlafstörungen oder Anspannung.
Bei Kindern und Jugendlichen kann man eine solche Störung an bestimmten ersten Anzeichen erkennen. So werden bestimmte Situationen oder Orte vermieden, um nicht an das Geschehene oder an die damit verbundenen Gefühlen erinnert zu werden. Die Betroffenen sind schreckhafter und wachsamer und zeigen oftmals größere Gefühlsschwankungen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass auch eine posttraumatische Belastungsstörung eine logische Folge des Erlebten ist. Allerdings sprechen Fachpersonen dann von einer Störung und nicht mehr von einer Reaktion. Eine Störung verschwindet nicht von allein, und es bedarf professioneller Unterstützung für die Heilung. Die eigenen Selbstwirksamkeitskräfte sind oftmals in der Lage, eine erlebte traumatische Situation zu verarbeiten, sodass das Ereignis keinen bleibenden Schaden zurücklässt (beispielsweise nach einem Verkehrsunfall). Wirken jedoch mehrere belastende Faktoren zusammen und sind die betroffenen Personen jünger und haben weniger eigene Schutzmechanismen, gelingt dies nicht. Zum Beispiel bei Missbrauch durch ein Elternteil, das einem eigentlich Schutz geben sollte.
Wird eine traumatische Erfahrung nicht bewältigt, können im Laufe der Zeit auch Traumafolgeerkrankungen auftreten. Diese werden aber oft aufgrund des zeitlichen Abstands nicht als solche erkannt. Dazu gehören im jungen Alter unter anderem depressive Symptome, Störungen der Emotionsregulierung, Angststörungen oder autodestruktive Verhaltensweisen (beispielsweise Selbstverletzung).
Gerade wenn die Traumatisierung im frühkindlichen Bereich stattfand, besteht manchmal keine aktive Erinnerung an die erlebte Bedrohung. Dementsprechend können spätere Symptomatiken nur schwer mit den frühen Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Ein Bindungstrauma in der frühen Kindheit kann zum Beispiel im Jugendalter, also viele Jahre später, zu Angststörungen oder Depressionen führen.
Trauma in der Familie
Für das Funktionieren innerhalb einer Familie kann ein Trauma weitreichende Folgen haben. Dabei ist entscheidend, ob das traumatische Erleben innerhalb der Familie stattfindet, zum Beispiel bei sexueller Gewalt durch ein Elternteil oder nahestehende Verwandte, oder ob ein Familienmitglied Opfer eines traumatischen Ereignisses wird und das Trauma dann innerhalb der Familie Platz finden kann oder muss (beispielsweise bei Unfall, Frühgeburt).
Auch spielt das Alter des betroffenen Familienmitglieds eine große Rolle. Je jünger das Kind zum Zeitpunkt des Traumas, desto empfänglicher ist es für späteren Stress und Folgeerkrankungen. Die lebenslangen Konsequenzen sind also besonders groß. Das liegt daran, dass Kinder sich schneller als Erwachsene in für sie ausweglosen und bedrohlichen Situationen wiederfinden, in denen sie keine Handlungsoptionen mehr sehen. Weil die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist und die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen, kann ein solches (oft auch wiederholtes) Stresserleben zu schwerer Traumatisierung führen.
Für die Familien (oder ähnliche Systeme) bedeutet das, dass sie viel verändern, umstrukturieren und anpassen müssen, um dem Kind oder Jugendlichen den nötigen Schutzraum bieten zu können.
Der Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen
Helfende fühlen sich oftmals überfordert im Umgang mit Traumatisierten oder haben Berührungsängste. Die besondere Verletzlichkeit der Betroffenen wird deutlich wahrgenommen und Unterstützende fürchten, etwas falsch zu machen oder zu verschlimmern.
Für traumatisierte Menschen ist in die Regel des „sicheren Ortes“ entscheidend: Sie können sich nur dann stabilisieren, wenn sie positive Emotionen wie Sicherheit, Kontrolle, Transparenz, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit erfahren.
Die äußere Sicherheit ist dabei die Voraussetzung für das Gefühl der inneren Sicherheit. Das heißt, ein Kind kann sich nicht von einem erlebten Trauma erholen, wenn es dem Umfeld, in dem das Trauma stattfand, wiederholt ausgesetzt ist. In der Praxis heißt das, dass ein Kind oder ein Jugendlicher das Angebot eines Schutzraumes braucht. Das kann bedeuten, dass es zu einer vorläufigen Trennung von Familien kommen kann, zum Beispiel nach einem Missbrauch durch Familienmitglieder. Falls die traumatische Erfahrung außerhalb der Familie gemacht wurde, kann die Familie auch selbst den benötigten Schutzraum anbieten. Dies gilt natürlich auch für Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe.
Betroffene brauchen in jedem Fall ein altersgerechtes Angebot für korrigierende positive, vertrauens- und bindungsfördernde Beziehungserfahrungen innerhalb eines sicheren Rahmens. In der Begleitung der Traumatisierten sollte zudem immer das individuelle Tempo des Einzelnen berücksichtigt werden. Dadurch werden Selbstwirksamkeitskräfte gefördert nach dem Grundsatz: „Ich helfe dir, es selbst zu bewältigen.“ Damit wird zugleich sichergestellt, dass die Betroffenen nicht überfordert oder retraumatisiert werden.
Gesprächsinhalte sollten nicht vorgegeben oder gesteuert werden. Die Akzeptanz der Bewältigungsmechanismen, die die betroffenen Menschen selbst wählen, kann für die Begleitenden durchaus herausfordernd sein. Denn sie gelten oft als destruktiv und können sich zum Beispiel in selbstverletzendem Verhalten ausdrücken. Als hilfreich für die Helfenden hat sich das Konzept „Annahme des guten Grundes“ erwiesen. Jeder Mensch hat demnach gute Gründe für sein Fühlen, Denken und Handeln. Die Bewältigungsstrategien können zu einem früheren Zeitpunkt bereits als überlebenswichtige Notlösung funktioniert haben. Das Ziel ist es dann, mit Betroffenen alternative, leicht umsetzbare und konstruktive Mechanismen für den Alltag zu erarbeiten. Im ersten Schritt geht es vor allem darum, die individuellen Bewältigungsstrategien zu stabilisieren und zu aktivieren. Damit wird das Autonomiegefühl nach einem erlebten Trauma wieder gefestigt. Erst in einem zweiten Schritt wird eine Traumaintegration bzw. eine Traumaverarbeitung angestrebt.
Hilfe finden
Wenn das Trauma dazu führt, dass der Alltag der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigt ist, sollte schnellstmöglich professionelle Unterstützung gesucht werden. Hilfe finden Betroffene und Unterstützende unter anderem in der Traumafachberatung, in Traumaambulanzen und in der Psychotherapie. Die Angebote können sich gegenseitig ergänzen und schließen einander nicht aus. Dementsprechend kann eine Traumafachberatung auch als Übergangsbegleitung dienen, bis ein freier Therapieplatz verfügbar ist.
Falls jedoch eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, ist eine sofortige medizinische Versorgung notwendig, zum Beispiel in der Notaufnahme einer allgemeinen Klinik oder in der nächsten psychiatrischen Klinik.